Zinsen rauf, Gold runter. Dieser Zusammenhang schien lange Zeit in Stein gemeißelt zu sein. Wenn reale Zinsen fielen, stieg der Goldpreis – und umgekehrt. Doch seit 2022 hat sich dieses Paradigma verschoben. Trotz deutlich gestiegener Realrenditen infolge aggressiver Zinserhöhungen durch die Zentralbanken blieb der Goldpreis nicht nur stabil, sondern legte zuletzt sogar weiter zu. Für Joseph Wu, Vice President und Portfoliomanager bei RBC Wealth Management, deutet dies auf einen fundamentalen Regimewechsel hin.
„Die Analyse der Goldpreistreiber war schon immer anspruchsvoll“, so Wu. „Doch über 25 Jahre hinweg ließ sich ein stabiler Zusammenhang zwischen Gold und den realen Zinsen beobachten – bis jetzt.“ Hintergrund: Gold selbst erwirtschaftet keine Erträge, verursacht aber Lager- und Versicherungskosten. Steigen reale Zinsen, erhöht sich somit der Opportunitätsverlust für Anleger, die stattdessen Erträge bei Anleihen erzielen könnten. Doch genau dieser Mechanismus hat an Aussagekraft verloren.
Wu sieht die Ursachen dafür vor allem auf der Nachfrageseite. Die Angebotsseite ist strukturell träge – die globale Minenproduktion wächst seit 2010 im Schnitt nur um zwei Prozent pro Jahr. Damit rücken Nachfragetrends stärker in den Fokus – und hier verändert sich derzeit vieles grundlegend.
Insbesondere die Zentralbanken sind als neue, preisstabile Käufer in Erscheinung getreten. Getrieben von geopolitischen Risiken und dem Wunsch, sich vom US-Dollar als Leitwährung unabhängiger zu machen, haben sie seit dem Einfrieren russischer Devisenreserven 2022 ihre Goldreserven massiv ausgebaut. Über 1.000 Tonnen pro Jahr wurden zuletzt netto gekauft – doppelt so viel wie im Jahrzehnt zuvor. Eine Umfrage des World Gold Council zeigt: 95 Prozent der befragten Notenbanken erwarten weitere Zukäufe in den kommenden zwölf Monaten.
Hinzu kommt der Wunsch vieler Investoren nach Diversifikation und einem alternativen Wertspeicher. In einer zunehmend fragmentierten Weltordnung mit wachsender Unsicherheit, höheren Schuldenständen und schwindendem Vertrauen in die Dominanz des Dollars gewinnt Gold neue strategische Relevanz. Gerade in Phasen, in denen Aktien und Anleihen parallel schwächeln – wie zuletzt in inflationär volatilen Marktphasen –, beweist das Edelmetall seinen Wert als Krisenversicherung.
Wu empfiehlt daher, Gold nicht als kurzfristiges Spekulationsobjekt, sondern als langfristige strategische Position im Portfolio zu betrachten: „Den perfekten Einstiegszeitpunkt zu finden, ist nahezu unmöglich. Viel sinnvoller ist es, die schützenden Eigenschaften von Gold langfristig zu nutzen – auch wenn dies zwischenzeitliche Phasen der Underperformance mit sich bringen kann.“
DER AKTIONÄR hat mehrfach erklärt, dass der Goldpreisanstieg in eine Zeit fällt, die traditionell alles andere als ideal für Gold ist. Doch dies ist ein Zeichen von relativer Stärke. Dass derzeit vor allem die Nachfrageseite dominiert ist richtig. Und auf mittlere Sicht dürfte die Nachfrage hoch bleiben, was natürlich Rücksetzer nicht ausschließt.
01.07.2025, 14:08