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22.09.2021 DER AKTIONÄR

China: Der Kampf um die Welt

China und die USA ringen um die globale Vormachtstellung. Ein Interview mit einem Top-Experten über die Politik der beiden Supermächte, ihre Eigenheiten und ihre Denkweise.

Hat China schon gewonnen? Dieser Frage geht der renommierte Politikwissenschaftler und erfahrene Diplomat Professor Kishore Mahbubani in seinem neuen Buch nach. DER AKTIONÄR nimmt dies zum Anlass, mit Professor Mahbubani über seine Ansichten zur geopolitischen Auseinandersetzung zwischen China und den USA zu sprechen. Dabei ordnet er den Konflikt historisch ein, analysiert die gegenwärtige Situation und das Verhältnis der beiden Supermächte zueinander und beschreibt die zukünftigen politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen und Herausforderungen dieses Wettstreits, der auch Europa und insbesondere Deutschland betrifft. 

DER AKTIONÄR: Welche Beweggründe hatten Sie, das Buch „Hat China schon gewonnen?“ zu schreiben?

Kishore Mahbubani: Wir werden gerade Zeugen des größten geopolitischen Wettstreits, der in der Geschichte der Menschheit jemals ausgebrochen ist. Dieser globale geopolitische Wettstreit findet eindeutig zwischen den USA und China statt und wird sich auf die ganze Welt auswirken – tatsächlich wird er sehr disruptive Folgen haben. Daher ist es für die Welt sehr wichtig zu verstehen, welche grundlegenden Kräfte diesen geopolitischen Wettstreit zwischen den USA und China antreiben. Ich hoffe, dass mein Buch zu diesem Verständnis beiträgt.

„China übertrifft in sozialer Hinsicht die Vereinigten Staaten. “ Kishore Mahbubani, Politikwissenschaftler, Universität Singapur

Können Sie unseren Lesern kurz etwas über Ihren persönlichen Hintergrund erzählen?

Nun, ich bin in Singapur geboren und aufgewachsen. Heutzutage hat Singapur das Image eines sehr reichen, erfolgreichen Staates. Aber zur Zeit meiner Kindheit war es eigentlich ein sehr armes Entwicklungsland. Das Pro-Kopf-Einkommen lag bei 500 Dollar. Das ist dasselbe wie in Ghana in Afrika. Wir wohnten in einem Haus ohne Toilettenspülung. Als ich sechs Jahre alt war, wurde ich in ein spezielles Ernährungsprogramm gesteckt. Vor meinem Haus kämpften Gangster gegeneinander. Ich bin also in einem typischen Dritte-Welt-Singapur geboren und aufgewachsen, das, wie Sie wissen, nicht sehr erfolgreich war. Nachdem ich also den großen Wandel Singapurs, den großen Wandel Asiens, miterlebt hatte, dachte ich, dass ich besser in der Lage wäre, zu erklären, warum China ein so starkes Comeback hat, wie das heute der Fall ist.

Sie haben Ihr Buch vor Beginn der Corona-Pandemie geschrieben und vor der gerade in jüngster Zeit wahrzunehmenden aggressiveren Außenpolitik Chinas. Nehmen Sie daher jetzt eine andere Haltung gegenüber China ein als zum Zeitpunkt der Erstellung Ihres Buches?

Ich glaube, im Englischen gibt es einen großen Unterschied zwischen den Wörtern aggressiv (aggressive) und selbstbewusst (assertive). China ist definitiv selbstbewusster geworden. Und Chinas Selbstbewusstsein ist ganz natürlich, denn man darf nicht vergessen, dass Chinas Bruttosozialprodukt und Kaufkraftparität im Jahr 1980 nur zehn Prozent desjenigen der Vereinigten Staaten betrug. Heute ist Chinas Bruttosozialprodukt größer als das der Vereinigten Staaten. Wenn man es also metaphorisch betrachtet, war China einmal eine Katze und ist inzwischen zum Tiger geworden.

Wie Sie wissen, machen Tiger nicht Miau, Miau, Tiger brüllen. Aber trotz seines Selbstbewusstseins ist China ist nicht aggressiv geworden: Es hat keinen Krieg im Irak begonnen, hat seit 40 Jahren keinen Krieg mehr geführt und seit 30 Jahren keine Kugel mehr über die Grenze abgefeuert. Es ist also selbstbewusster geworden, aber nicht aggressiver.

Kishore Mahbubani, Hat China schon gewonnen? 320 Seiten, 24,90€ - Es ist die zentrale geopolitische Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts – China und die USA ringen um die globale Vormachtstellung. Vieles spricht für einen Sieg Chinas. Hat das Land diesen Wettkampf vielleicht sogar schon gewonnen? Kishore Mahbubani, weltweit renommierter Politologe aus Singapur und langjähriger Diplomat, bietet differenzierte Antworten. Kenntnisreich arbeitet er die Stärken und Schwächen, Denkweisen und gegenseitigen Vorurteile der beiden Supermächte heraus und räumt mit Illusionen auf – von der außer­gewöhnlichen Tugendhaftigkeit der USA bis zur von China ausgehenden „gelben Gefahr“. Worauf es ihm ankommt: Peking und Washington sollten auf der Basis ihrer Gemeinsamkeiten die drängenden Probleme der Menschheit miteinander lösen. In Zeiten schwelender Handelskriege und Konflikte ist Mahbubanis Buch ein Appell an die Vernunft und ein unverzichtbarer Leitfaden für ein besseres Verständnis der USA und des Aufsteigers China.

Sie sagen in Ihrem Buch, dass sich das heutige Amerika wie die Sowjetunion und China wie Amerika verhält. Ist das amerikanische politische System noch flexibel genug, um die notwendigen Anpassungen vorzunehmen und eine China-Politik zu formulieren, die im besten Interesse der USA liegt? Welches wäre das beste Interesse der USA?

Nun, ich hoffe jedenfalls, dass es flexibel genug ist. Ich bin ein Freund und kein Feind Amerikas, und ich möchte, dass es den Vereinigten Staaten von Amerika gut geht. Und ich hoffe, dass man mein Buch auch in Amerika liest und einige Lehren daraus zieht. Aber der Grund, warum ich die Vereinigten Staaten von heute mit der Sowjetunion der Vergangenheit verglichen habe, hat mit einem berühmten amerikanischen Strategen zu tun. George Kennan war sein Name. Er war für die Eindämmungspolitik verantwortlich, war aber ein umso differenzierterer Denker. Kennan sagte: „Am Ende wird der Ausgang des Wettstreits zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vom Grad der geistigen Vitalität der jeweiligen Gesellschaft abhängen.“ War die sowjetische Gesellschaft geistig vitaler oder die amerikanische? Die amerikanische Gesellschaft war geistig viel vitaler als die sowjetische Gesellschaft. Ich war 1976 in Moskau. Ich weiß, wie dunkel und düster die Stimmung in der Sowjetunion zur damaligen Zeit war.

Aber heute, wenn man die Vereinigten Staaten mit anderen Ländern vergleicht, dann sind die Vereinigten Staaten das einzige große Industrieland, in dem das Durchschnittseinkommen der untersten 55 Prozent seit 30 Jahren stagniert. Im Gegensatz dazu haben die untersten 50 Prozent in China die besten 30 Jahre der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung hinter sich. Und das waren die besten 30 Jahre in der 3.000-jährigen chinesischen Geschichte. Während die Vereinigten Staaten die Sowjetunion in sozialer Hinsicht eindeutig übertroffen haben, übertrifft China heute in sozialer Hinsicht die Vereinigten Staaten. Und deshalb ist es für die Vereinigten Staaten sehr wichtig zu verstehen, dass die Herausforderung durch China weitaus größer ist als die Herausforderung, der die Vereinigten Staaten jemals durch die Sowjetunion ausgesetzt waren.

Wie beurteilen Sie die bisherigen Maßnahmen der Regierung Biden in Bezug auf China? Ist diese Regierung auf dem richtigen Weg?

Nun, ich denke, dass wir in Singapur, wir in Asien, wie alle anderen in der Welt, sehr froh waren, dass Präsident Biden zum Präsidenten gewählt wurde, denn, wie Sie wissen, war Präsident Donald Trump eine sehr gefährliche, spaltende Figur, die nur an Amerika zuerst glaubte und sich nicht um den Rest der Welt kümmerte. Joe Biden dagegen ist ein viel netterer Mensch, viel nachdenklicher und viel engagierter gegenüber dem Rest der Welt.

Deshalb sollten wir die Tatsache feiern, dass Joe Biden Donald Trump besiegt hat. Aber wenn es um China geht, scheinen Joe Biden leider die Hände gebunden zu sein. Und dies, obwohl Joe Biden selbst während des US-Wahlkampfes gesagt hat, dass die Handelszölle, die Donald Trump gegen China verhängt hat, amerikanischen Arbeitern und Verbrauchern geschadet und Amerika in keiner Weise geholfen haben. Er hätte die Handelszölle und Sanktionen gegen China aufheben sollen.

Aber weil die Stimmung in den Vereinigten Staaten gegen China so vergiftet geworden ist, war Joe Biden bisher nicht in der Lage, die Politik der USA gegenüber China zu ändern – außer in einigen wenigen Bereichen, beispielsweise dem Klimawandel. Er verhält sich diesbezüglich nicht positiver gegenüber China, aber in einer Weise, wie es Donald Trump nie getan hat. Ich hoffe also, dass Biden mit der Zeit eine bessere Politik gegenüber China betreiben wird als Donald Trump.

Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts zwischen den USA und China in den kommenden Jahren ein, zum Beispiel wegen Taiwan?

Ich denke, jeder in der Welt sollte über diese Frage gut nachdenken, denn manche Leute glauben, dass Taiwan ein unabhängiges Land ist. Es ist aber kein unabhängiges Land. In der Tat haben die Vereinigten Staaten im Rahmen der Vereinbarung zwischen den USA und China die sogenannte Ein-China-Politik anerkannt. Und gemäß der Ein-China-Politik wird deutlich, dass Taiwan und China Teile eines einzigen Landes sind.

Es ist wichtig zu verstehen, dass Taiwan während des Jahrhunderts der Demütigung, das China von 1842 bis 1949 erlitten hat, von China getrennt wurde. Das erklärt, warum China eine dermaßen dominante Position gegenüber Taiwan einnimmt, denn aus chinesischer Sicht ist Taiwan das letzte lebende Symbol dieses Jahrhunderts der Demütigung. Wenn sich Taiwan also zu einem unabhängigen Land erklärt, würde das einen Krieg bedeuten.

Und es ist auch wichtig zu verstehen, dass, wenn es einen unüberwindbaren Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China gibt, im Fall eines Atomkriegs 10 bis 15 amerikanische Städte, aber auch 40 bis 50 chinesische Städte verschwinden könnten. Die Welt würde unter einem nuklearen Winter leiden. Taiwan ist also ein hochsensibles Thema in den Beziehungen zwischen den USA und China. Daher sollten wir einfach sagen: Behaltet den Status quo bei. Ändert den Status quo nicht, sonst könnte ein Krieg um Taiwan beginnen.

„EINE KONFRONTATION MIT CHINA WÜRDE EINEN KONFLIKT OHNE GEWINNER HERAUFBE­SCHWÖREN.“

Henry Kissinger, früherer US-Außenminister

Wie würden Ihrer Ansicht nach die südostasiatischen Länder reagieren, wenn es zu einer Zuspitzung des Konflikts zwischen China und den USA käme? Wie würde Indien reagieren?

Die südostasiatischen Länder, die 10 ASEAN-Länder, wollen eindeutig gute Beziehungen zu den Vereinigten Staaten unterhalten und tatsächlich wurde ASEAN 1967 als ein proamerikanisches Gremium gegründet. China verurteilte die Gründung der ASEAN. Aber heute treiben die ASEAN-Länder mehr Handel mit China als mit den Vereinigten Staaten, was erstaunlich ist, denn im Jahr 2000 betrug der Handel der USA mit den ASEAN-Ländern knapp 135 Milliarden Dollar, mehr als das Dreifache des damaligen chinesischen Handels mit den ASEAN-Ländern (40 Milliarden Dollar).

Der Handel der USA mit den ASEAN-Ländern beläuft sich heute auf 300 Milliarden Dollar, während der Handel Chinas mit den ASEAN-Ländern mit 600 Milliarden Dollar fast doppelt so hoch ist wie der der USA. Es liegt also auf der Hand, dass die ASEAN-Länder ihren wichtigsten Handelspartner, nämlich China, nicht aufgeben wollen. Ich denke, es ist sowohl für uns als auch für China sehr wichtig zu verstehen, dass die ASEAN-Länder in diesem Wettstreit zwischen den USA und China nicht Partei für den einen oder anderen ergreifen, sondern mit beiden befreundet sein wollen.

Indiens Position ist etwas anders. Indien hat eigentlich lange Zeit eine sehr neutrale Position in diesem Streit zwischen den USA und China eingenommen. Aber wie Sie wissen, ereignete sich im Juni letzten Jahres ein Unfall an der indisch-chinesischen Grenze, bei dem chinesische und indische Soldaten im Kampf gegeneinander starben – nicht aufgrund des Einsatzes von Gewehren und Munition, sondern es kamen Holzknüppel zum Einsatz und sowohl indische als auch chinesische Soldaten starben. Und natürlich haben sich die Beziehungen zwischen Indien und China in den letzten zwölf Monaten sehr verschlechtert.

Aber die gute Nachricht ist, dass sie sich jetzt zu stabilisieren scheinen. Sowohl Indien als auch China ergreifen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass es an der Grenze keine Streitfragen mehr gibt. Ich denke, dass Indien selbst ein strategisch autonomer Akteur sein möchte und weder ein Verbündeter der USA noch Chinas sein will.

Wird China bei einer zunehmenden Schwäche der USA näher an die EU heranrücken?

Ich denke, China möchte sich der Europäischen Union annähern, weil es der Ansicht ist, dass die Europäische Union einige gemeinsame Interessen mit China hat. Ich gebe Ihnen ein konkretes Beispiel. Die langfristige strategische Herausforderung für die Europäische Union sind nicht mehr die russischen Panzer. Es wird keine russischen Panzer mehr geben, die in Europa einmarschieren. Die langfristige strategische Herausforderung für Europa ist die demografische Explosion in Afrika.

1950 war die Bevölkerung Afrikas nur halb so groß wie die Europas. Aber heute ist die Bevölkerung Afrikas mehr als doppelt so groß wie die Europas. Und bis zum Jahr 2050 wird die Bevölkerung Afrikas dreieinhalbmal so groß sein wie die Europas. Es liegt also eindeutig in Europas strategischem Langzeitinteresse, dass sich Afrika entwickelt, denn wenn es eine gute Entwicklung in Afrika gibt, kommen weniger afrikanische Migranten nach Europa. Und da es im europäischen Interesse liegt, die Entwicklung Afrikas zu fördern, ist China heute der größte Investor in Afrika.

Wenn China also in Afrika investiert, macht es Europa ein geopolitisches Geschenk. Auch wenn Europa in gewisser Weise den Vereinigten Staaten nahesteht, so hat Europa doch eine sehr fragile Bevölkerung mit eigenen langfristigen Interessen. Ein europäischer Regierungschef wird sagen, dass Europa auch mit China zusammenarbeiten muss. Ich erkenne daher ein gewisses Potenzial für die Zusammenarbeit zwischen der EU und China, trotz der politischen Differenzen.

Sehen Sie zurzeit einen Außenpolitiker vom Format eines Henry Kissinger (den Sie in Ihrem Buch mehrmals erwähnen), der das Eis zwischen China und den USA brechen könnte?

Leider gibt es heute in den Vereinigten Staaten von Amerika niemanden von der Statur eines Henry Kissinger. Wie Sie wissen, sagte mir Henry Kissinger im März 2018 bei einem persönlichen Mittagessen, dass das Grundproblem der amerikanischen Herangehensweise an China darin besteht, dass Amerika keine umfassende langfristige Strategie im Umgang mit China hat.

Das Rätselhafte an den Vereinigten Staaten ist, und ich bin sicher, dass die Deutschen diesbezüglich genauso verwirrt sind wie ich, dass die Vereinigten Staaten einerseits das erfolgreichste Land sind, das die Welt seit Beginn der Menschheitsgeschichte gesehen hat. Deshalb nannte der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine die Vereinigten Staaten zu Recht eine Hypermacht, ein erstaunlich mächtiges Land. Es hat die besten Universitäten der Welt, die besten Thinktanks der Welt, die besten Zeitungen der Welt.

Aber erstaunlicherweise denken die Vereinigten Staaten andererseits nicht langfristig. Bis zu einem gewissen Grad ist dies wohl ein Ergebnis der amerikanischen Geschichte, denn die Vereinigten Staaten haben sich so sehr daran gewöhnt, in einer Welt zu leben, in der es niemanden außer ihnen gibt. Die Amerikaner können nicht einmal an die Möglichkeit denken, dass Amerika die Nummer 2 werden könnte, oder sich überhaupt überlegen, was Amerika tun sollte, wenn es die Nummer 2 in der Welt wird. In diesem Sinne ist mein Buch ein Geschenk an Amerika, da es versucht, Amerika auf eine ganz andere Welt vorzubereiten, die kommen wird: Irgendwann in den nächsten 10 bis 15 Jahren werden die Vereinigten Staaten von der Nummer 1 zur Nummer 2 in der Welt werden.

Und es ist besser, wenn Amerika jetzt damit beginnt, sich darauf vorzubereiten, anstatt diese Tatsache so zu leugnen, wie es das bisher getan hat.

Von welcher geopolitischen Machtverteilung gehen Sie am Ende dieses Jahrzehnts aus?

Nun, ich denke, dass die nächsten zehn Jahre, wie Sie in meinem Buch sehen können, sehr aufregende Jahre sein werden. In der Welt wird es große Veränderungen geben. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben wir eine unipolare Welt gesehen. Und natürlich gab es den berühmten Aufsatz von Francis Fukuyama, in dem er sagte, die Menschheit habe das „Ende der Geschichte“ erreicht (in diesem Aufsatz von 1989 wird die These aufgestellt, dass sich im Laufe der Geschichte die liberale Demokratie gegen alle anderen real durchgeführten Staats- und Wirtschaftssysteme durchgesetzt habe, Anm. DER AKTIONÄR). In einem anderen Zusammenhang wies ich darauf hin, dass Fukuyama damit dem Westen sehr geschadet hat, weil er den Westen genau zu dem Zeitpunkt in den Schlaf versetzte, als Asien gerade aufwachte.

Was wir also im 21. Jahrhundert erleben werden, ist die Rückkehr Asiens. Das 21. Jahrhundert wird definitiv das asiatische Jahrhundert sein. Im nächsten Jahrzehnt werden wir uns eindeutig von einer unipolaren Welt zu einer multipolaren Welt bewegen. Das sehe ich als eine positive Entwicklung, denn eine multipolare Welt ist eine viel stabilere Welt. So wie ein Stuhl drei oder vier Beine haben muss.

Wenn man also eine multipolare Welt hat, hat man eine stabilere Weltordnung, weil sie auf vielen Säulen ruht und nicht nur auf einer. Aus psychologischer Sicht ist es daher für die Europäer und für die Deutschen sehr wichtig zu verstehen, dass sich die Welt in den nächsten ein oder zwei Jahrzehnten grundlegend verändern wird. Wir alle müssen also einen Neustart unserer mentalen Konzepte durchführen, um diese neue Welt zu verstehen.

Und ich hoffe, dass mein Buch dazu beitragen wird, diesen Neustart zu vollziehen, um die neue Welt, die auf uns zukommt, zu verstehen.

Würden Sie Anlegern in Deutschland zum jetzigen Zeitpunkt und angesichts zahlreicher aktueller Regulierungsmaßnahmen der chinesischen Regierung zu einem Engagement in chinesische Aktien raten? Welche Investment-Alternative(n) würden Sie empfehlen?

Wie Sie wissen, wird der Wert von Aktien nicht nur durch langfristige geopolitische Trends bestimmt, über die ich spreche und die ich mit Zuversicht erwähne. Er wird auch durch kurzfristige politische Veränderungen bestimmt. So ist die chinesische Regierung derzeit zum Beispiel sehr mutig. Sie versucht sicherzustellen, dass China nicht wie die Vereinigten Staaten zu einer Plutokratie wird, und wie Sie wissen, beschreibe ich in meinem Buch, wie die Vereinigten Staaten zu einer Plutokratie geworden sind.

Im Fall der Vereinigten Staaten sind also die großen Unternehmen mächtiger als die Regierung. Aber die großen Unternehmen können die Politik der Regierung bestimmen. Wer will große Unternehmen? Sie können sich durchsetzen, indem sie Kongressabgeordnete und Senatoren kontrollieren. China möchte nicht, dass das passiert. Die chinesische Regierung will daher sicherstellen, dass sie mächtiger als das chinesische Großkapital bleibt. Aus diesem Grund wurde gegen große chinesische Unternehmen wie Alibaba, Tencent und andere hart vorgegangen.

Es ist also klar, dass die Aktien von diesen Veränderungen betroffen sein werden. Aber wenn Sie mich fragen, ob ich für die chinesische Wirtschaft insgesamt in den nächsten 10, 15 Jahren optimistisch bin, bejahe ich dies. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass das chinesische Bruttosozialprodukt in 10 bis 15 Jahren größer sein wird als das der Vereinigten Staaten. Aber fragen Sie mich bitte nicht, welche Aktien man kaufen soll, denn ich bin kein professioneller Anlageberater.

Welche Schlussfolgerungen können unsere Leser aus Ihrem Buch ziehen?

Nun, ich hoffe, dass die deutschen Leser meines Buches verstehen werden, dass das, was wir jetzt tun müssen, ist, die Geschichte gründlicher zu studieren. Und zu verstehen, dass vor mehreren Tausend Jahren bis zum Jahr 1820 die beiden größten Volkswirtschaften der Welt immer diejenigen von China und Indien waren. Europa und Nordamerika haben erst vor 200 Jahren einen Aufschwung erlebt. Vor dem Hintergrund waren die letzten 200 Jahre der Weltgeschichte also ein großer historischer Ausreißer. Jetzt kehren wir zu einer normaleren Welt zurück, in der die größten Volkswirtschaften in Asien liegen werden. Psychologisch gesehen ist es für die Europäer also gut, sich auf diese neue Welt vorzubereiten, die kommen wird. Aber ich möchte betonen, dass die Europäer auch optimistisch in die Zukunft blicken sollten, denn der Grund, warum die Asiaten wieder nach vorn gekommen sind, ist, dass sie die besten Praktiken von Europa gelernt haben.

Und so wie Europa sehr robuste, friedliebende Mittelstandsgesellschaften hat und es in Europa keine Aussicht auf einen Krieg gibt, so träumt Asien heute davon, dort zu sein, wo Europa heute ist, und eine Welt mit bequemen Mittelstandsgesellschaften zu haben, in der es keine Kriege zwischen asiatischen Staaten gibt. All dies bedeutet natürlich auch, dass es in Asien sehr große Märkte für deutsche und europäische Produkte geben wird. Ich habe also eine optimistische Botschaft für meine deutschen und europäischen Freunde.

Dieses Interview ist in DER AKTIONÄR Nr. 39/2021 erschienen, welches Sie hier als PDF gesamt herunterladen können.

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