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03.07.2020 Lars Friedrich

Virtuelle Hauptversammlungen: Cybermarathon

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DAX

Virtuelle Hauptversammlungen haben in der Coronakrise nicht zur Entmündigung der Kleinanleger geführt – aber zu Langeweile.

Nach zwei Stunden und 14 Minuten wurde der Journalist von der Nachrichtenagentur langsam nervös. „Gibt es irgendwann einmal eine Pipi-Pause?“, schrieb er während der ProSiebenSat.1-Hauptversammlung im virtuellen Pressezentrum (eine geschlossene Chatgruppe bei Microsoft Teams). Und wenn er nicht irgendwann einfach seinem Bedürfnis nachgegangen ist, musste er noch mehr als zwei Stunden warten. Denn eine Pause gab es erst, nachdem alle Fragen mehr oder weniger beantwortet waren. 115 waren es, teils bestehend aus mehreren Einzelfragen, eingereicht von 29 Aktionären im Vorfeld der Hauptversammlung.

Im Zweifel hätten Vorstand und Aufsichtsrat von ProSieben gar nicht auf jede Frage eingehen müssen. In der Coronakrise ist die Präsenzpflicht für Hauptversammlungen bis zum Jahresende ausgesetzt. Die Veranstaltungen sind zu Sendungen der Aktiengesellschaften geworden, bei denen Anleger im Vorfeld ihre Beiträge einreichen – ohne Garantie, berücksichtigt zu werden. Kritiker witterten daher im Vorfeld die Beschneidung von Aktionärsrechten, forderten Verschiebungen der Termine. Wohl auch um nachträgliche Vorwürfe und schlechte Presse zu vermeiden, hatte sich ProSiebenSat.1 entschieden, auf seiner Online-Hauptversammlung alle eingereichten Fragen zu beantworten. Das führte zu einem Marathon mit vielen inhaltlichen Dopplungen. Insgesamt dauerte die Veranstaltung fünf Stunden. Nachfragen waren nicht möglich. Diskussionen gab es keine. Auch keine Zwischenrufe. Aber auch keinen Applaus. 

Als Bühne diente ein Fernsehstudio. Eine echte Show lieferte ProSiebenSat.1 mit der virtuellen Hauptversammlung jedoch nicht. „Turbulent“, wie im Vorfeld von einigen Beobachtern erwartet, ging es beim besten Willen nicht zu. Eher steif und steril.  

Kreativer präsentierte sich die US-Kaffeehauskette Starbucks: Die diesjährige Hauptversammlung des Unternehmens fand in einer virtuellen Filiale statt.

Per Stream konnten Anleger im Internet die Reden auf den Hauptversammlungen von ProSiebenSat.1, Bayer und Munich Re (von oben nach unten) verfolgen.

Bequem für alle Beteiligten

Für Konzerne haben Online-Hauptversammlungen einige Vorteile: Jeder Satz kann im Vorfeld mit Anwälten und der Presseabteilung abgestimmt werden. Nachfragen und Störungen müssen nicht befürchtet werden. Der Zeitplan ist unter Kontrolle. Die Kosten betragen oft nur einen Bruchteil der sonst üblichen Summe. Zwar müssen die Übertragungen im Internet und die elektronischen Abstimmungen organisiert werden, doch Saalmiete, Ordner und Büfett entfallen. Im Fall von ProSiebenSat.1 wurden so 50 Prozent gespart. Bayer zahlte nur eine Million Euro, während es im Vorjahr 3,5 Millionen Euro waren.

Die Aktionäre können sich wiederum eine Anreise sparen, ihre Fragen im Vorfeld einsenden, die Hauptversammlung am Bildschirm verfolgen und online abstimmen. Fragen ufern nicht in Monologe aus. Fünf Stunden bei ProSieben mögen zwar viel klingen, bei Bayer waren es sogar sieben, aber: Im Vorjahr dauerte die Bayer-Hauptversammlung zwölf Stunden, weil jeder mal was zu Glyphosat sagen wollte, egal wie redundant es war. Die virtuellen Hauptversammlungen sind zwar lebloser, aber kompakter. 

„Für künftige Hauptversammlungen gibt es noch keine konkreten Planungen.“

Bayer, Presseabteilung

Protestaktionen gab es zumindest bei Bayer in abgespeckter Variante – mit freundlicher Unterstützung des unternehmenseigenen Social-Media-Teams, das am Tag der Hauptversammlung von 8 bis 10 Uhr auf Twitter nur kritische Inhalte teilte.

Auf die Reden während der virtuellen Hauptversammlungen kann nicht direkt reagiert werden. Aktionärsschützer und aktivistische Investoren können unter diesen Umständen nur eingeschränkt Kritik am Management üben. Aber zu diesem Zweck gibt es andere Möglichkeiten. Bei ProSieben hatten sich beispielsweise Investoren bereits im Vorfeld über die Presse geäußert. Bei den Führungskräften großer DAX-Konzerne ist auf einer Hauptversammlung ohnehin kaum mit spontanen Erwiderungen zu rechnen. Vielmehr haben auch bei Präsenzveranstaltungen im Hintergrund Anwälte ihre Finger im Spiel. 

Schlechter besucht waren die virtuellen Hauptversammlungen der großen Konzerne nicht – eher im Gegenteil. Deutlich mehr Fragen wurden wiederum nicht gestellt. Komplett neu ist das Modell auch nicht: Schon in den vergangenen Jahren haben einige Konzerne zumindest die Reden auf ihren Jahreszusammenkünften als Videos zur Verfügung gestellt – live und anschließend auch als Aufnahme. Gehört den E-Veranstaltungen also die Zukunft?

5.000 Zuschauer hatte die virtuelle Bayer-Haupt­versammlung in der Spitze.

Kein Dauerzustand

Rein virtuelle Hauptversammlungen sieht der Gesetzgeber in Deutschland bislang nicht vor. Möglich wäre künftig vielleicht eine Mischform mit optionaler Teilnahme im Internet. Der Enthusiasmus hält sich diesbezüglich aber bislang in Grenzen. Bayer teilte auf Nachfrage lediglich mit: „Für künftige Hauptversammlungen gibt es noch keine konkreten Planungen, geschweige denn Beschlüsse.“ 

Auf der ProSiebenSat.1-Hauptversammlung wollte ein Anleger wissen, warum das Unternehmen den Frage-Teil der Veranstaltung nur Anlegern und ausgewählten Pressevertretern live zugänglich macht und nicht zumindest nachträglich als Aufzeichnung veröffentlicht. Sinngemäße Antwort: Das Unternehmen habe halt so entschieden. Na dann, auf zur Pipi-Pause.

Dieser Artikel ist in DER AKTIONÄR Nr. 28/2020 erschienen, welches Sie hier als PDF gesamt herunterladen können.

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